„Postindustrialismus“ wird im öffentlichen Diskurs häufig als Chiffre für Niedergang, Armut, Arbeitslosigkeit, Extremismus oder Rassismus verwendet. Diese stereotypen und stigmatisierenden Bilder postindustrieller Milieus finden meist über die Medien ihren Weg in das gesellschaftliche Bewusstsein. Ob sich die Bewohner postindustrieller Gemeinschaften jedoch mit diesen öffentlichen Narrativen identifizieren, ob sie sich selbst als Außenseiter – kurz als „Marginalisierte“ – wahrnehmen, ist eine der Forschungslücken, die das VOICES-Projekt schließen möchte.

Sechs Städte, viele Geschichten

Das Projekt wird in sechs postindustriellen Städten durchgeführt, die alle den Aufstieg und Niedergang der Industrie erlebt haben: Weißwasser, Lauchhammer und Eisenhüttenstadt in Ostdeutschland sowie Redcar, Rotherham und Middlesbrough in Nordengland. Diese Städte, einst bedeutende Industriezentren, haben durch den Zusammenbruch ihrer Industriezweige tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Veränderungen erfahren. Auch heute noch kämpfen sie mit den Herausforderungen des Strukturwandels und müssen sich den daraus resultierenden Chancen und Schwierigkeiten stellen. Mit diesem Projekt möchten wir die Geschichten der Menschen festhalten, die diesen Wandel miterlebt haben, und ihre Widerstandskraft sowie ihre Erfahrungen bei der Anpassung an die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten dokumentieren und weitergeben.

Zwei Arbeitspakete: Medien und Identität

Unter Anwendung eines systematischen Forschungsdesigns, das auf kritischer Diskurstheorie und Ungleichheitsforschung basiert, zielt das Projekt darauf ab, eine elitenzentrierte Perspektive mit einer Basis-Perspektive auf die Marginalisierung postindustrieller Milieus zu kontrastieren: Zum einen wird die Rolle der Medien als zentrale Akteure bei der öffentlichen Konstruktion von postindustrieller Marginalisierung und der Herausbildung marginalisierter Identitäten untersucht (Top-down). Zum anderen werden die Identitätsbildungsprozesse der Bewohner postindustrieller Zentren im Kontext dieser dominanten, massenmedial vermittelten Narrative erforscht (Bottom-up).

Das Projekt folgt einem komparativen transnationalen Ansatz und ist in zwei thematische Arbeitspakete unterteilt, die sich auf unterschiedliche Forschungsschwerpunkte konzentrieren: Medienstrukturen und die Identität der Bewohner postindustrieller Städte. Im Rahmen des ersten Arbeitspakets Medien erfolgt eine Analyse der Medienregulierung, der Produktion journalistischer Inhalte, der Berufsbilder von Journalisten sowie der medialen Repräsentation unter Berücksichtigung der Marginalisierung aus einer Top-down-Perspektive. Zusätzlich werden nutzergenerierte Inhalte auf sozialen Plattformen untersucht. Das zweite Arbeitspaket Identität fokussiert sich auf identitätsbezogene Forschung aus einer Bottom-up-Perspektive. Dabei wird der Schwerpunkt auf narrative Praktiken sowie die Bedeutung des Storytellings gelegt. Da die Mediennutzung und -rezeption beide Bereiche überschneiden, wird dieser Aspekt integrativ von beiden Arbeitspaketen analysiert.