Sechs Städte, viele Geschichten
Das Projekt wird in sechs postindustriellen Städten durchgeführt, die alle den Aufstieg und Niedergang der Industrie erlebt haben: Weißwasser, Lauchhammer und Eisenhüttenstadt in Ostdeutschland sowie Redcar, Rotherham und Middlesbrough in Nordengland. Diese Städte, einst bedeutende Industriezentren, haben durch den Zusammenbruch ihrer Industriezweige tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Veränderungen erfahren. Auch heute noch kämpfen sie mit den Herausforderungen des Strukturwandels und müssen sich den daraus resultierenden Chancen und Schwierigkeiten stellen. Mit diesem Projekt möchten wir die Geschichten der Menschen festhalten, die diesen Wandel miterlebt haben, und ihre Widerstandskraft sowie ihre Erfahrungen bei der Anpassung an die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten dokumentieren und weitergeben.
- Weißwasser – Im Nordosten Sachsens gelegen, war Weißwasser als „Glasmacherstadt“ einst einer der bedeutendsten Standorte der europäischen Glasindustrie, wo von robusten Fensterscheiben bis hin zu edlem Kristallglas alles hergestellt wurde. Das Erbe dieser Ära ist noch heute spürbar, insbesondere in der Ruine der Gelsdorfhütte, die als Relikt von der einstigen industriellen und regionalen Bedeutung der Stadt zeugt. Auch der Glasmacherbrunnen auf dem Bahnhofsvorplatz, ursprünglich als Kriegerdenkmal errichtet, erinnert an die Blütezeit der Glasproduktion und steht als Symbol für die Handwerkskunst jener Zeit. Doch Weißwassers Geschichte endet nicht in der Vergangenheit. Mit dem wirtschaftlichen Wandel hat sich auch die Identität der Stadt weiterentwickelt.Was bedeutet der industrielle Wandel für die Stadt heute? Wie gehen die Menschen mit den Veränderungen um, und welche Erinnerungen bleiben an die Zeit, als die Glasindustrie das Stadtbild prägte?
- Lauchhammer – Als ehemalige Braunkohlestadt erinnern sich die Einwohner von Lauchhammer noch gut an den typischen Phenolgeruch, der einst über der Stadt lag und untrennbar mit der örtlichen Kokerei verbunden war. Die Biotürme, in denen phenolhaltige Abwässer mithilfe von Hochofenschlacke biologisch gereinigt wurden, sind heute das bekannteste Industriedenkmal der Stadt im südlichen Brandenburg. Doch Lauchhammer hatte noch mehr zu bieten: Als Ende der 1960er Jahre eine neue Gießerei für Badewannen gebaut wurde, produzierte die Stadt sämtliche Badewannen für den DDR-Markt. Heute sucht Lauchhammer eine neue Identität als Stadt der Kunstgießerei, während sich die Natur nach und nach die alten Industrieflächen zurückerobert.Wie erinnern sich die Einwohner von Lauchhammer an die Zeiten, als die Windrichtung entschied, wann die Wäsche aufgehängt werden konnte, um Kohleflecken zu vermeiden? Und wie haben sie die Zeit nach der Wende erlebt?
- Eisenhüttenstadt – Einst Symbol für den industriellen Aufschwung der DDR, steht Eisenhüttenstadt heute beispielhaft für den Strukturwandel vieler ehemaliger Industriestädte in Ostdeutschland. Die 1950 als „Stalinstadt“ gegründete Stadt war eng mit dem größten Stahlkombinat der DDR verbunden und schuf Tausende von Arbeitsplätzen. Nach der Wiedervereinigung 1990 geriet die ostdeutsche Schwerindustrie unter enormen Druck. Der Übergang zur Marktwirtschaft führte zu umfangreichen Umstrukturierungen und Privatisierungen. Auch das Eisenhüttenwerk, heute ArcelorMittal Eisenhüttenstadt, musste sich anpassen, was zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten und großen Herausforderungen für die Stadt führte.Wie erinnern sich die Menschen an die Zeit, als ihre Stadt eines der Aushängeschilder der DDR-Industrie war? Und wie haben sie den Wandel und die Modernisierung erlebt?
- Redcar – Abseits der langen Sandstrände und der Strandpromenade erheben sich stolz die Überreste der Kohle- und Stahlindustrie von Redcar. Fast ein Jahrhundert lang wurde in Redcar Stahl produziert, und seit Mitte des 19. Jahrhunderts prägten Hochöfen die Region. Bis in die 1980er Jahre waren die Stahlwerke der wichtigste Arbeitgeber - Generationen von Familien lebten von der Stahlindustrie. Die Schließung des letzten verbliebenen Hochofens im Jahr 2015 war ein schwerer Schlag für die Belegschaft und die gesamte Region, in der Stahl durch die Adern vieler Menschen fließt. Viele Gebäude, die lange Zeit das Stadtbild prägten, wie der Dorman Long Tower, wurden seither gesprengt. Obwohl die Stahlwerke in Redcar heute größtenteils brach liegen, gibt es Anzeichen dafür, dass in naher Zukunft auf Elektroöfen umgerüstet werden könnte.
Wie erinnern sich die Einwohner von Redcar an die Zeiten, in denen Stahlfeuer und Hochöfen die Landschaft dominierten? Wie haben sie den Rückgang der Stahlindustrie erlebt – zwischen Arbeitsverlust, Veränderungen und der Hoffnung auf einen Neuanfang? - Rotherham – Die Eisengewinnung in Rotherham lässt sich bis in die Römerzeit zurückverfolgen. Die allgegenwärtigen Kohlevorkommen machten die Stadt während der Industriellen Revolution zu einem bedeutenden Industriestandort. Im späten 18. und 19. Jahrhundert wurde die historische Marktstadt in Süd-Yorkshire zunehmend für ihre Kohle- und später Stahlindustrie bekannt – der hier produzierte Stahl wurde weltweit im Brückenbau und im Eisenbahnwesen eingesetzt und spielte eine zentrale Rolle bei der Ausrüstung und Aufrüstung des britischen Militärs. Obwohl die Stahlindustrie in Rotherham mit dem Liberty-Stahlwerk immer noch ihren Platz hat, ist die Stadt seit dem Niedergang der Stahlindustrie in den 1980er und 1990er Jahren von wirtschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen geprägt. Manche der ehemaligen Fabrikstätten wurden jedoch zu neuem Leben erweckt, so wie etwa die früheren Templeborough Stahlwerke – umgangssprachlich liebevoll Steelos genannt. Auf dem Gelände befindet sich heute das beliebte Magna Science Adventure Centre, in dem die Stahlgeschichte der Stadt und die Elektrolichtbogenöfen des Werks wieder lebendig werden.
Wie werden sich diese Transformationen entwickeln und wie können sie der lokalen Bevölkerung dienen? Wie können die Einwohner mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Stahlindustrie versöhnt werden? Wie passen sie sich an den industriellen Wandel an und welche Erinnerungen und Erfahrungen werden bewahrt? - Middlesbrough – Einst eine kleine Bauerngemeinde, entwickelte sich Middlesbrough im 19. Jahrhundert rasch zu einer Industriestadt und ist seither berühmt für ihr industrielles Erbe. Die Stadt wurde 1830 als neuer Kohlehafen am Ufer des Tees gegründet. Im Herzen des Tees Valley gelegen, entwickelte sich die Stadt schnell zu einem wichtigen Industriezentrum und wurde in der viktorianischen Ära zu einem globalen Zentrum der Eisen- und Stahlindustrie, des Schiffbaus und der chemischen Industrie. Die Bedeutung war so groß, dass der Stahl für die Hafenbrücke von Sydney vom Stahlgiganten Dorman Long in Middlesbrough hergestellt und in den 1930er Jahren unter dem Label „Made in Middlesbrough“ bis nach Australien verschifft wurde. Über dem Fluss Tees erhebt sich eine imposante Brücke, die Transporter Bridge, die 1911 erbaut wurde und heute eine der größten erhaltenen Transportbrücken der Welt ist. Sie ist ein stolzes Symbol für die Ursprünge der Stadt und ihr industrielles Erbe, insbesondere in einer Zeit, in der die Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie immer mehr verschwindet.Wie erinnert man sich an den Niedergang der Stahlindustrie in einer Stadt, die um die Kohle- und Stahlindustrie herum gewachsen ist? Wie erleben die Bewohner den industriellen Wandel und seine Herausforderungen?
Zwei Arbeitspakete: Medien und Identität
Unter Anwendung eines systematischen Forschungsdesigns, das auf kritischer Diskurstheorie und Ungleichheitsforschung basiert, zielt das Projekt darauf ab, eine elitenzentrierte Perspektive mit einer Basis-Perspektive auf die Marginalisierung postindustrieller Milieus zu kontrastieren: Zum einen wird die Rolle der Medien als zentrale Akteure bei der öffentlichen Konstruktion von postindustrieller Marginalisierung und der Herausbildung marginalisierter Identitäten untersucht (Top-down). Zum anderen werden die Identitätsbildungsprozesse der Bewohner postindustrieller Zentren im Kontext dieser dominanten, massenmedial vermittelten Narrative erforscht (Bottom-up).
Das Projekt folgt einem komparativen transnationalen Ansatz und ist in zwei thematische Arbeitspakete unterteilt, die sich auf unterschiedliche Forschungsschwerpunkte konzentrieren: Medienstrukturen und die Identität der Bewohner postindustrieller Städte. Im Rahmen des ersten Arbeitspakets „Medien“ erfolgt eine Analyse der Medienregulierung, der Produktion journalistischer Inhalte, der Berufsbilder von Journalisten sowie der medialen Repräsentation unter Berücksichtigung der Marginalisierung aus einer „Top-down“-Perspektive. Zusätzlich werden nutzergenerierte Inhalte auf sozialen Plattformen untersucht. Das zweite Arbeitspaket „Identität“ fokussiert sich auf identitätsbezogene Forschung aus einer „Bottom-up“-Perspektive. Dabei wird der Schwerpunkt auf narrative Praktiken sowie die Bedeutung des Storytellings gelegt. Da die Mediennutzung und -rezeption beide Bereiche überschneiden, wird dieser Aspekt integrativ von beiden Arbeitspaketen analysiert.